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IEC 60870-5-104 (IEC 104) – Protokollbeschreibung

🧾 Was ist IEC 104?

IEC 60870-5-104, oft einfach IEC 104 genannt, ist ein industrielles Kommunikationsprotokoll zur Fernüberwachung und Fernsteuerung in Energieversorgungsnetzen und industriellen Automatisierungssystemen.

Es ist eine Erweiterung von IEC 60870-5-101 (IEC 101) für den Betrieb über TCP/IP-Netzwerke – also auf Basis von Ethernet statt serieller Kommunikation.

IEC 104 wird häufig eingesetzt in:

  • Leitsystemen von Strom-, Gas-, Wasser- und Fernwärmenetzen
  • Umspannwerken, Kraftwerken, Wind- und PV-Anlagen
  • Industrieanlagen mit dezentraler Fernsteuerung

📦 Technische Merkmale

Merkmal Beschreibung
Standard IEC 60870-5-104
Übertragungsmedium Ethernet / TCP/IP
Transportprotokoll TCP
Standard-Port Port 2404/tcp (offiziell reserviert)
Übertragungsrichtung Bidirektional (Client ↔ Server)
Zeitsynchronisation Möglich über IEC 104 (z. B. durch Zeitstempel)
Sicherheitsfunktionen Im Basisstandard nicht vorgesehen (siehe unten)
OSI-Modell-Zuordnung Layer 1–4 durch TCP/IP, Layer 7 durch IEC 104
Datenmodell Informationsobjekte (IOA) mit Typkennung (Type ID)
Typischer Dateninhalt Zustände, Analogwerte, Steuerbefehle, Messwerte, Zählerstände

🧠 Funktionsweise

IEC 104 arbeitet nach dem Client-Server-Prinzip.
Typisch sind:

  • Control Center (SCADA)Client
  • RTU / Substation ControllerServer

Der Client (z. B. ein Leitsystem) stellt eine Verbindung zum Server her und fordert Zustandsdaten an oder sendet Steuerbefehle.
Die Kommunikation basiert auf sogenannten ASDUs (Application Service Data Units) – standardisierte Telegramme mit klarer Struktur.

Datenarten (ASDU-Typen)

IEC 104 definiert verschiedene Typkennungen (Type ID), u. a.:

Type ID Beschreibung
1 Einzelpunktinformation (binär)
3 Einzelpunkt mit Zeitstempel
9 Messwert (Analogwert, 16 Bit)
13 Zählerwert
45 Steuerbefehl (Ein-Aus)
48 Steuerbefehl mit Zeitverzögerung

Ein Objekt hat eine sogenannte IOA (Information Object Address), also eine Adresse im Datenmodell (z. B. 10001 für eine bestimmte Leitungsschaltung).


📡 Verbindungsaufbau & Kommunikation

1. TCP-Verbindung

Der IEC-104-Client baut eine TCP-Verbindung auf Port 2404 zum Server auf.
Sobald diese steht, beginnt der Protokollaustausch.

2. Startdatenübertragung (StartDT)

Der Client sendet STARTDT_ACT, der Server antwortet mit STARTDT_CON.
Erst danach beginnt der Austausch von ASDUs.

3. Datenaustausch (I-Frames)

Die Übertragung erfolgt über:

  • I-Frames (Information Frames): Nutzdaten wie Messwerte oder Steuerbefehle
  • S-Frames (Supervisory Frames): Quittierung, Flusskontrolle
  • U-Frames (Unnumbered Frames): Verbindungssteuerung (z. B. StartDT, StopDT)

4. Spontanübertragung

IEC 104 erlaubt spontane Telegramme, d. h. ein Gerät meldet Ereignisse, ohne dass sie aktiv abgefragt wurden.


📶 IEC 104 im OSI-Modell

IEC 104 belegt folgende Schichten im OSI-Modell:

OSI-Layer Protokoll
7 IEC 104 ASDU
6 – (nicht verwendet)
5 – (nicht verwendet)
4 TCP
3 IP
2 Ethernet
1 Physikalisches Medium (z. B. Kupfer, Glasfaser)

🧱 Sicherheit – oder besser: fehlende Sicherheit

IEC 104 war nicht für offene Netzwerke gedacht – daher fehlen viele Sicherheitsfunktionen:

  • Keine Authentifizierung
  • Keine Verschlüsselung
  • Kein Schutz vor Man-in-the-Middle oder Replay-Angriffen
  • Telegramme können mit Tools wie Wireshark leicht analysiert und manipuliert werden

Mögliche Schutzmaßnahmen:

  • Segmentierung (z. B. DMZ, VLANs)
  • VPN-Tunnel oder TLS-Gateways zur Absicherung der TCP-Verbindung
  • Firewalls mit Protokollfilter (z. B. DPI für IEC 104)
  • IEC 62351 als Erweiterung für sichere Kommunikation (TLS, Zertifikate, Signaturen)

✅ Vorteile von IEC 104

  • Weit verbreitet im Energiebereich (Strom, Gas, Wasser)
  • Kompatibel mit moderner IP-basierter Infrastruktur
  • Spontanmeldung von Ereignissen spart Bandbreite
  • Einfache Integration in SCADA-Systeme

⚠ Nachteile / Herausforderungen

  • Keine eingebauten Sicherheitsfunktionen
  • Kein automatisches Redundanzmanagement
  • Veraltet gegenüber moderner Protokolle wie IEC 61850
  • Aufwendig bei Integration in moderne Cloud-/IoT-Architekturen

Fazit

IEC 104 ist ein bewährtes Protokoll zur Fernüberwachung und -steuerung technischer Anlagen in der Energiewirtschaft.
Trotz seines Alters ist es noch weit verbreitet – insbesondere in kritischen Infrastrukturen.

Sicherheit muss allerdings extern ergänzt werden, da das Protokoll keinerlei Schutzmechanismen bietet. In modernen Anlagen wird deshalb zunehmend auf IEC 62351, VPN-Tunnel und Netzwerksegmentierung gesetzt.


Hinweis:
Zur Analyse und zum Testen von IEC 104 können Tools wie Wireshark, Scapy, OpenMUC j60870, KEMA RTU-Testtools oder spezielle IEC 104 Fuzzer verwendet werden.